Immer wieder ist von Mentalität die Rede. Der Eine hat sie, der Andere nicht. Aber was ist das überhaupt – Mentalität? Ist die angeboren? Kann man die kaufen? Oder trainieren? Fragen an einen Sportpsychologen und Mental-Trainer, der es wissen muss – und spannende Einblicke gibt.
Momentan beschäftige ich mich viel mit dem Thema Mentalität. Im Sport wird das Wort immer dann bemüht, wenn sich jemand im entscheidenden Moment besonders willensstark zeigt – oder eben nicht. Das klingt immer so, als sei diese Mentalität etwas Gottgegebenes. Man hat sie oder man hat sie nicht. Aber wozu gibt es dann Mental-Trainer?
Ich habe mit meinem Bekannten Michele Ufer gesprochen. Michele ist Sportpsychologe, Mental-Trainer und Autor mehrerer Bücher, die ich jedem, der sich für Motivation und Flow sowie körperliche (und mentale) Grenzen interessiert, ans Herz lege.
laufendessen.de: Wenn ich an den BVB in den letzten Monaten denke oder an meinen Paris-Marathon, an meinen Ausstieg beim Citylauf in Neheim oder das Abschneiden verschiedener Bekannter bei Wettkämpfen, kommt oft der Gedanke an die Einstellung oder eben die Mentalität. Den Vorwurf, jemandem fehle die nötige Mentalität, gibt es ja oft. Gibt es überhaupt so etwas wie eine angeborene Mentalität?
„Es gibt keine allein selig machende Definition von mentaler Stärke“
Michele Ufer: Mentalität ist wahrscheinlich als Synonym für mentale Stärke gemeint. Ich könnte mir vorstellen, dass es um die Einstellung geht. Mentale Stärke ist ja ein Set von Einstellungen, die dazu führen, dass wir leistungsfähiger werden. Die Crux ist, dass es keine allen selig machende Definition von mentaler Stärke gibt.
Meint man die psychische Widerstandskraft oder die Ausdauer oder die Selbstmotivation? Man sollte den Blick weiten und schauen, was Sportler erfolgreich macht. Da gibt es ganz klar ein Set von Strategien, das erfolgreiche von weniger erfolgreichen Sportlern unterscheidet.
Mentale Stärke beim Laufen from Dr. Michele Ufer on Vimeo.
laufendessen.de: Platt gesagt, heißt es dann oft, jemand habe eine Gewinner-Mentalität. Das klingt so angeboren und nicht veränderbar. Das kann es aber ja nicht sein, sonst müsstest du ja keine Bücher darüber schreiben.
Michele Ufer: Letztlich ist alles im Leben eine Mischung aus Anlage und Umfeld. Wir haben bestimmte Prädispositionen, aber die sind ausprägbar und entwickelbar. Daher macht es immer Sinn, zu schauen, wo man seine mentale Stärke verbessern kann. Mentale Stärke ist kein Charakterzug, sondern ein Set von Einstellungen und Fähigkeiten. Und die kann man trainieren.
Laufen ist so ein Beispiel. Wir sind zum Laufen geboren. Fast jeder Mensch läuft.
Das heißt aber doch nicht, dass man es nicht verbessern kann. Indem wir bestimmte Übungen immer wieder machen, werden wir besser. Wenn wir zum Beispiel unseren Laufstil analysieren, sehen wir, wo wir besser werden können. Und das geht auch mit mentalen Strategien.
Mit inneren Bildern und Selbstgesprächen zum Erfolg
Wir können trainieren, welche Selbstgespräche wir in welchen Situationen führen, wie wir unsere Gedanken kontrollieren, unsere Gefühle im Griff haben oder gezielt einsetzen. Wie wir uns auf Ziele fokussieren und sie definieren, ist oft total oberflächlich und verschenkt viel Potenzial. Die Arbeit mit inneren Bildern ist ein supermächtiges Werkzeug. Wir stellen uns vor: „Boah, jetzt muss ich in diese Prüfung!“ Da ist die Frage, ob wir sowas nicht perfektionieren können, indem wir innere Bilder abrufen, die uns motivieren. In der Sportpsychologie spricht man von „The Zone“, der Zone der optimalen Leistungsfähigkeit. Wie komme ich in dieses Fenster zwischen zu viel Anspannung und zu viel Entspannung? Da gibt es Strategien, die wir trainieren können.
laufendessen.de: Ich hatte bei meinen letzten beiden Läufen zwei völlig unterschiedliche Erfahrungen. In Paris hatte ich wegen verschiedener Verletzungen gar nicht damit gerechnet, durchlaufen zu können – und es wurde der schmerzfreieste Marathon aller Zeiten. In Neheim hatte ich ein ambitioniertes Ziel und bin beim Zehner nach fünf Kilometern ausgestiegen. Was habe ich richtig bzw. falsch gemacht?
Michele Ufer: Aus der Distanz ist das schwer zu beurteilen. Das wäre unseriös. Aber das Ding in Paris ist ja ein wunderschönes Beispiel dafür, dass man nicht zu viel wollen darf, weil man sonst verkrampft. Da sind wir wieder bei der Mentalität – es gibt ja dieses Wort „110-Prozent-Mentalität“. Das sorgt für Druck. Man will mehr erreichen als man kann und setzt sich so unter Druck, dass man verkrampft. Der Muskeltonus ist erhöht, die Bewegungen werden unkoordiniert.
Das ist im Fußball doch genau so. Den Elfmeter, den ich im Training tausendmal oben in den Winkel haue, schieße ich im Endspiel auf die Tribüne, weil die Motorik nicht stimmt oder die Aufmerksamkeit falsch gelenkt wird. Daher macht es Sinn, zu trainieren, wie man den Druck los wird. Wenn du mit der Einstellung rangehst, einfach nur genießen zu wollen, kannst du Höchstleistungen vollbringen. Naja, es tut ja schon manchmal ziemlich weh und man muss auch fighten.
Wie unbewusste Konflikte unsere Leistung beeinträchtigen
Letzte Woche habe ich einen Mental-Workshop für Führungskräfte gemacht. Da kamen viele Fragen, wer was warum wie geleistet hat oder gescheitert ist. Dabei kam heraus, dass das bei jedem ganz andere individuelle Gründe sind. Wir ticken alle unterschiedlich.
Ein Beispiel: Ein Jugendlicher – totaler Topathlet in seiner Sportart – haut im Training regelmäßig super Leistungen raus. Im Wettkampf aber nicht. Ein absoluter Trainingsweltmeister. Jetzt kann man sagen: Da muss man an der mentalen Stärke arbeiten, die Selbstgespräche verbessern… Es hat sich aber herausgestellt, dass das Problem ein ganz anderes war: ein unbewusster Wertkonflikt. Wäre er in den Wettkämpfen erfolgreich gewesen – was er unbedingt wollte –, wäre er auf ein Sportinternat eine halbe Ewigkeit weg von zu Hause gekommen. Die Werte „Familie“ und „Zusammensein“ sind ihm aber extrem wichtig. Das wurde ihm jetzt erst bewusst! Man muss also immer sehr viel aufdröseln, um herauszufinden, woran es liegt.
Linkliste: Bücher von Dr. Michele Ufer
Diese Bücher seien allen ambitionierten Sportlern und allen, die sich für Mental-Training interessieren, empfohlen (nein, ich verdiene da nicht dran)…
laufendessen.de: Ich finde in deinem Buch „Limit Skills“ spannend, wie sich Sportler, die enorm viel investieren, ihre Ziele sausen lassen, korrigieren und dann Leistung bringen.
Michele Ufer: Es kann helfen, zum Beispiel statt auf Leistungsziele, den Fokus auf Prozessziele zu richten oder zur richtigen Zeit auf die richtigen Ziele zu schauen. Prozessziel ist eines meiner Zauberwörter. Statt „Ich werde Erster“ als Ziel zu setzen, nimm dir vor: „Ich werde von Training zu Training, von Wettkampf zu Wettkampf besser“.
Wie bei Lorraine, der Free Ride Skifahrerin im Buch „Limit Skills“. Die kann alles, die fährt die wildesten Dinger runter. Aber im Wettkampf stürzte sie oft oder machte sonst was. Ja, warum?
Das ist wie bei deinem Zehn-Kilometer-Ding. Du kannst doch zehn Kilometer laufen! Wenn du dir durch dein Ziel zu viel Druck machst, verkrampfst du. Wenn du aber definierst, was du in welchem Moment fühlen willst, wie du willst, dass es dir geht, kannst du dir ein ganzes Set aus Gedanken und inneren Bildern zurechtlegen, die deine Handlung beeinflussen. Dann ist dein Ziel nicht die Zeit, die du erreichen willst, sondern zum Beispiel, geschmeidig zu laufen, locker und elastisch zu sein. Dann ist die Aufmerksamkeit ganz anders fokussiert. 110-Prozent sorgen für viel zu viel Druck. 95 Prozent sind viel effektiver, weil wir nicht vom Start weg unter Druck stehen.
Zurück zu Lorraine: Die wurde dann schließlich Weltmeisterin, nachdem sie sich vor allem auf Prozessziele fokussiert hat, etwa in einen Flow zu kommen.
Warum 95 Prozent besser sind als 100
laufendessen.de: 95 Prozent klingt so nach Loser.
Michele Ufer: Nö. Das ist effektiv. Überleg mal: 100 Prozent sind das absolute, absolute Maximum, das man leisten kann. Das erreiche ich vielleicht, wenn ich Todesangst habe. Aber ist ein Wettkampf so ein Moment? Wir bleiben doch immer ein Stück unter unserer absoluten Leistungsschwelle, allein um den Körper zu schützen. Vor dem Hintergrund machen 95 Prozent bestimmt mehr Sinn. Das ist diese Machokultur, die einfach nicht funktional ist. Wenn jemand in manchen Unternehmen nach acht Stunden Feierabend macht und gefragt wird, ob er heute nur halbtags arbeitet, ist das auf Dauer womöglich nicht allzu leistungs- und gesundheitsfördernd. Immer am Anschlag – das geht nicht gut.
laufendessen.de: Ist Mentaltraining eher etwas für Einzelsportler? Ein Team als gesamtes hat ja wahrscheinlich gar keine Gesamt-Mentalität.
Michele Ufer: Es gibt genug Mannschaften, die auf Mentaltrainer oder Sportpsychologen setzen. Die Fußball-Nationalmannschaft zum Beispiel arbeitet seit Jahren mit Sportpsychologen. Eine Mannschaft besteht zwar aus Einzelspielern, aber die müssen natürlich zusammen funktionieren, da ist Team-Denken und Gruppendynamik wichtig und da spielen natürlich immer auch individuelle Einstellungen und Verhaltensweisen rein.
Man könnte zum Beispiel bei Neuverpflichtungen auch schauen, ob ein neuer Spieler überhaupt zur Vereinskultur passt. In der Wirtschaft ist das ja Gang und Gäbe, zu schauen, ob jemand psychologisch ins Team passt. Der Sport ist da vielleicht noch etwas zurück.
laufendessen.de: Hat denn eine Mannschaft so etwas wie einen gemeinsamen Kopf?
Michele Ufer: Das sollte sie auf jeden Fall. Sie sollte so etwas wie Gruppen-Kognition haben, geteilte Einstellungen darüber, wie sie zu funktionieren hat. Sie sollte ein gemeinsam getragenes Ziel haben und Klarheit darüber, wie intern mit Konflikten umgegangen wird. Im Übrigen haben wir alle so etwas wie ein inneres Team. Schon Goethe sagte: „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust.“ Das sind unterschiedliche innere Stimmen, die uns widersprüchliche Sachen einsäuseln. Wenn man da mal tiefer geht, kommt man auf einen ganzen Chor aus Stimmen. Das können ganz leise Stimmen sein, die alle ihren Senf dazu geben. Solche innerpsychischen Prozesse lassen sich auch auf Teams übertragen und umgekehrt.
laufendessen.de: Im Hobbysport scheint Mentaltraining immer wichtiger zu werden. Im Profi-Mannschaftssport kommt das irgendwie nie so raus.
Michele Ufer: Im Fußball ist das ganz extrem. Im Nachwuchsbereich sind die Vereine ja mittlerweile verpflichtet, einen Sportpsychologen zu beschäftigen. Bei den Profiteams sieht das ganz anders aus. In der Bundesliga sind das momentan glaube ich drei. Ziemlich wenig, oder?
Es gibt einzelne Spieler, die privat mit Mentalcoaches zusammenarbeiten. In einer Mannschaft haben viele den Vorbehalt, dass der Psychologe Dinge an den Trainer weitergibt. Das muss man vorher natürlich klären und eine Vertrauensbasis schaffen. Und natürlich ist das Thema noch immer stigmatisiert, gerade im Fußball mit seiner Machokultur. Stichwort: „Ich hab‘ doch keinen an der Klatsche, bin doch nicht verrückt“, oder Ähnliches. Die Arbeit mit einem Psychologen wird vielfach als Schwäche ausgelegt, was ja eigentlich totaler Murks ist.
Ich kenne aber auch einen Fall, da hat jemand, der eigentlich Physiotherapeut ist, die Mannschaft psychologisch betreut. Der ist kläglich gescheitert. In dem Verein muss in den nächsten zehn Jahren wahrscheinlich keiner mehr mit der Idee kommen, einen Psychologen zu beschäftigen – da ist verbrannte Erde.
laufendessen.de: Wenn ich als Hobbysportler im mentalen Bereich arbeiten will, muss ich vermutlich erst mal wissen, was ich erreichen will. Vermutlich reicht es nicht, ein Buch zu lesen und dann bin ich mental stark…
Michele Ufer: … Es gibt auf Amazon eine Rezension zu meinem Buch, die ist der Burner: „Mich hat dieses Buch nicht so gepackt. Mir waren die Übungen zu anstrengend. Ich hätte mir eher mehr Tipps erwartet, ohne sich alles selbst zu erarbeiten. Letzteres ist am Ende vermutlich effektiver, aber mir fehlte die Lust dazu.“
laufendessen.de: Das ist so, als würde man sich einen Trainer nehmen und dem nur zuschauen, was er so macht.
Michele Ufer: Ja. Man wird auch nicht schlanker, indem man ein Diätbuch liest. Natürlich gibt es Tipps und Geschichten, aus denen man Inspiration schöpfen kann. Aber letztlich steht ja schon im Titel des Buches, worum es geht: mentales Training. Der Mental-Trainer gibt dir keine Wunderpille. Ich mache nicht „Huuuhhuuu!“ – und schon gehst du ab wie ne Rakete. Oft kann man unbewusste, innere Blockaden lösen, aber letztlich kann man mit mentalem Training nicht tricksen. Man kann nur das rausholen, was in einem steckt. Das sollte man sich bewusst machen. Aber das wiederum ist dann doch oft mehr als man so denkt.
Mentales Training ist ständiges Wiederholen und Feintuning. Wie beim Autofahren. Das kannst du auch irgendwann. Und nebenbei kannst du noch mit deiner Frau reden, mit den Kindern schimpfen und den Sender am Radio wechseln. Das Gaspedal und den Schaltknüppel findest du trotzdem. Das läuft automatisiert.
Und dann kann man vielleicht tatsächlich von Mentalität sprechen. Wenn du ein Set aus Fähigkeiten entwickelt hast, die in Fleisch und Blut übergegangen sind, die du abrufen kannst, ohne darüber nachzudenken. Dann bist du vielleicht wirklich mental stärker geworden. Und dann kommt vielleicht jemand und sagt: „Boah, der hat aber ne Mentalität!“
9 Antworten auf „Interview mit Michele Ufer: Mentalität – was ist das überhaupt?“