Das Marathon-Wunder von Paris

Schmeißt eure Bücher über Sport-Psychologie weg! Feuert eure Mentaltrainer! Mein Paris-Marathon 2019 hat gezeigt, wie man einen Lauf schmerzfrei, relativ locker und mit einer passablen Zeit ins Ziel bringt. Die Zutaten fürs perfekte Laufrezept: eine Menge Verzweiflung, ein Teil Pessimismus und ein Schuss Gleichgültigkeit.

Was sind das für Krämpfe! Mit knüppelharten Waden sitze ich auf der Bordsteinkante, an jedem Fuß ein Sanitäter. Ich hatte mich (meiner Meinung nach durchaus heldenhaft) mit neuer Bestzeit ins Ziel gekämpft. Und nun sitze ich da und leide.

Das war Köln im Herbst 2018.

Paris 2019: Starten und finishen

Die Geschichte des Paris-Marathons 2019 – meines vierten Paris-Marathons in Serie – geht ganz anders. Es kommt keine Bestzeit drin vor, kein großer Kampf, kein großer Plan. Nur ein Wunsch: Starten und vielleicht sogar ankommen. Es sollte ein Wunder werden – mein persönliches Marathon-Wunder.

 

Vorfreude beim Flanieren auf den Champs-Elysées am Tag vor dem Paris-Marathon.

Zu viele Zipperlein sind mir in die Vorbereitung gegrätscht. Mein Training bestand zuletzt aus ein paar Fahrten mit dem Rad und Krafttraining. Dabei hatte ich mir das so schön vorgestellt. Denn als feststand, dass mein Kumpel Wiggy seinen zweiten Marathon in Paris laufen würde, freute ich mich auf ein echtes Wettrennen. Ich wusste längst, was Wiggy nicht wissen wollte: Er würde locker unter vier Stunden laufen können.

Wettlauf gegen die Zeit

Aus dem Wettkampf mit Wiggy wurde ein Wettlauf gegen die Zeit. Ich malträtierte meine harte Wade mit allen Mitteln. Hauptsache, ich würde starten können. Ins Ziel würde ich zur Not mit der Kamera in der Hand spazieren.

Denn das stand nun fest: Paris 2019 würde ein Sightseeing-Marathon.

Die Wade z(w)ickt nicht mehr

Nun stehe ich am Start und weiß nicht, was auf mich zukommt. Ich habe eine kleine Actioncam und mein Handy in der Tasche, um möglichst viel filmen und fotografieren zu können. Fotopausen sind fest eingeplant. Endlich will ich ein Laufselfie mit dem Eiffelturm machen!

Aber komme ich überhaupt bis km 30? Erst mal schaffen! Die Wade fühlt sich ganz okay an. Insbesondere das Tape, das ich mir vor zwei Tagen per Do-it-yourself-Video geklebt habe, scheint zu helfen.

Aber quasi ohne Training einen Marathon laufen? JEDEM würde ich abraten!

Ich mach’s trotzdem.

Auf der Strecke beim Paris-Marathon 2019

Es geht los! Filmend überquere ich die Startlinie. Schon nach ein paar Metern bremse ich ab und filme die an mir vorbeiziehenden Läufer. Perspektive und Bildkomposition sowie die Akkulaufzeit der Actioncam sind mir gerade wichtiger als die Pace. Das hier soll schließlich Sightseeing werden.

Läufer des Paris-Marathon auf der Place de la Concorde.

An der Place de la Concorde stoppe ich wieder und filme. So geht es weiter. Einen Laufrhythmus suche ich erst gar nicht. Es gibt einfach zu viel zu sehen. Irgendwie tun mir diese kleinen Intervalle aus Laufen und Filmen aber gut. Daher beschließe ich, zumindest an den weniger fotogenen Stellen zu laufen.

Bis kurz vor der Place de la Bastille laufe ich. Erst dort wird wieder gefilmt. Danach verfalle ich in einen gemütlichen Trab.

Schneller als erwartet

Zum ersten Mal befasse ich mich nun mit meiner Pace. 5:50 min/km laufe ich. Es fühlt sich gut an. Meine Zeit verrät mir, dass ich trotz der Fotopausen mit einem Schnitt von 6:00 ins Ziel laufen kann – wenn ich denn so weit komme. Damit hätte ich nie gerechnet. Das wird nun so etwas wie mein Hauptziel: ein Sechser-Schnitt im Ziel.

Paris-Marathon 2019.

Von meiner Problemwade merke ich überhaupt nichts. Also beschließe ich, ein bisschen Sport zu machen und ziehe das Tempo leicht an.

Kilometer um Kilometer zieht vorbei. Mein Blick geht jetzt öfter zur Uhr und ich rechne das Sechser-Einmaleins durch. Dabei stelle ich fest, dass meine km-Durchgangszeiten inzwischen sechs Minuten unter Sechser-Schnitt liegen. Würde ich so weiterlaufen wie genau jetzt, käme ich nach 4:06 Stunden ins Ziel – habe also quasi schon einen Kilometer rausgelaufen.

Plötzlich erwacht sportlicher Ehrgeiz

Da es bis zur Halbmarathonmarke noch ein Bisschen ist, versuche ich, es nicht zu übertreiben.

Perfekte Wasserversorgung.

Aber im Hinterkopf flüstert eine Stimme, dass ich mich doch wirklich super fühle und auf den noch vor mir liegenden 25 Kilometern doch bestimmt noch mal sechs Minuten rauslaufen und versuchen könnte, unter vier Stunden zu bleiben.

Du bist immer dann am besten, wenn’s dir eigentlich egal ist – Die Ärzte

Das gefällt mir! Ich fühle mich federleicht und unbeschwert und beschließe, es drauf ankommen zu lassen. Glücklicherweise weiß ich, dass es auf den kommen Kilometern nicht viel zu filmen gibt. Erst an der Halbmarathonmarke werde ich wieder Bilder machen.

Jetzt laufe ich erstmal.

Bei km 30 passieren die Läufer den Eiffelturm.

Und tatsächlich! Ich sammele noch eine Minute ein, liege bei einer Schlusszeit unter 4:06 Stunden.

Wenn jetzt alles hält, ist eine Zeit unter vier drin! Ich denke an Wiggy und die Kollegen aus der Trainings-Whats-App-Gruppe. Von mir erwartet nach meiner endlosen Jammerei der vergangenen Wochen keiner was – ich auch nicht.

Bela B. singt in meinem Kopf

Noch nie habe ich mich bei einem Marathon so frei gefühlt. Auch jetzt, da ich mir etwas mehr Druck mache, bin ich total locker.

Das ersehnte Selfie mit dem Eiffelturm.

Die innere Flüsterstimme beginnt zu singen: Die Ärzte, Lied vom Scheitern. „Du bist immer dann am besten, wenn’s dir eigentlich egal ist“, singt Bela B. in meinem Kopf. Das macht er noch etliche Kilometer. Es tut gut.

Du bist immer dann am besten, weil der Ehrgeiz dich sonst auffrisst. – Die Ärzte

Was soll denn schon sein, wenn ich nicht unter vier Stunden bleibe? Nix! Ich habe so gut wie nicht trainiert – ich erwarte nichts. Ich teste jetzt einfach mal, was geht. Die Rechnerei mit den Zeiten ist ein Spiel, bei dem ich nur gewinnen kann.

An der Halbmarathonmarke merke ich, dass die Zeit – realistisch und unter Berücksichtigung schwindender Ressourcen in den Beinen – knapp wird. Aber: Es ist mir egal. „Scheißegaaaaaal!“, grölt meine innere Stimme. Ich laufe einfach mal weiter.

Selfie mit dem Eiffelturm ist wichtiger als eine gute Zeit

Nicht egal ist mir das Selfie am Eiffelturm. Als der Lulatsch bei km 29 endlich zu sehen ist, suche ich nach einem guten Fotospot. Ich verlasse kurz die Strecke und mache mit langem Arm ein paar Bilder. Außerdem stoppe ich, um das am Turm vorbeiziehende Läuferfeld zu filmen.

Diesen Moment lasse ich mir doch nicht nehmen, wenn es nur noch darum geht, ob ich nach 4:06 oder 4:12 Stunden ins Ziel laufe. Die 3:59:59 war nur eine schöne Illusion und Motivationsspritze.

Doppeltes Sieger-Bier.

Von den kleinen Gemeinheiten (Bergaufpassage, Kopfsteinpflaster, Sonne), die der Kurs jetzt noch parat hat, lasse ich mich nicht beirren. Kein Vergleich zu den vergangenen Läufen, bei denen ich mich ab km 35 Richtung Ziel kämpfen musste. Wenn ich gehen will, gehe ich kurz und filme. Aber ich gehe wenig.

Ich bin immer dann am besten, wenn mir keiner ins Regal pisst. – Die Ärzte

Triumph am Triumphbogen.
Plötzlich taucht eine Markierung auf: Noch 500 Meter bis zum Ziel! Ich zücke das Handy und will filmen. Dabei sehe ich eine Whats-App-Nachricht, dass Wiggy schon im Ziel ist. 3:57! Ich wusste es doch! Eine 3:55 hatte ich ihm prognostiziert.

Mit einer Hand animiere ich das Publikum, das meine Geste dankbar aufnimmt und laut wird.

Mit Jubelschrei über die Ziellinie

Der grüne Teppich kommt, vor mir der Zielbogen. Mit Jubelrufen renne ich ins Ziel. Viel zu spät denke ich daran, die Uhr zu stoppen. 4:14:irgendwas. Offiziell 4:13:38 Stunden – also trotz vieler Fotopausen fast der im Rennen angepeilte Sechserschnitt!

Ich bin immer dann am besten – am zweit-, dritt- oder zehntbesten
Von mir aus auch mal nicht am besten
Ich muss das nich austesten
Nicht noch mal
Mein Spiegelbild ist anderen egal. – Die Ärzte

Selten habe ich mich im Ziel eines Marathons so locker gefühlt.

Endlich habe ich mal Gelegenheit gehabt und genutzt, um die Stimmung zu genießen. Und die Stimmung in Paris ist gigantisch!

Die Lehre: Immer locker bleiben

Dass Laufen Kopfsache ist, war mir ja schon klar. Dabei geht es nicht darum, dem Körper Dinge abzuverlangen, die er nicht kann. Dafür ist der Sport zu mathematisch – man kann nicht schneller laufen als man laufen kann.

Aber ein freier Kopf hilft dabei, das wahre körperliche Potenzial überhaupt erst freizusetzen.

Natürlich sind 4:13:38 keine überragende Zeit. Ich bin in Köln rund 24 Minuten schneller gewesen und habe da gespürt, dass ich noch Reserven habe. Aber trotzdem: Paris hat sich über weite Strecken angefühlt wie Jogging. Das ist mein persönliches Marathon-Wunder!

Jetzt fehlt bloß noch ein Weg, diese mentale Lockerheit auf die Straße zu bekommen, wenn ich zuvor trainiert habe.

Vielleicht greife ich doch noch mal zu einem Buch über Mentaltraining…

11 Antworten auf „Das Marathon-Wunder von Paris“

  1. Moin!
    Durch Marc (Ostwest4ale.de) bin ich auf deinen Blog gestossen. Leider erst jetzt, wie ich froh und sauer zugleich zugeben muss. Toller Schreibstil. Macht Spaß dir zu zulesen.

    LG aus Norddeutschland
    Sönke

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