Salto Nullo in Budapest: Der Weg aus dem deutschen Leichtathletik-Desaster

Bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2023 in Budapest gab es für Deutschland keine Medaillen. In dem Desaster liegt auch eine Chance.

Was für ein Glück, dass sich in Deutschland niemand für Leichtathletik interessiert. Man stelle sich vor, wie Hohn und Spott über das deutsche Team bei den Weltmeisterschaften 2023 in Budapest ausgekübelt würden – die Fußballer können ein Lied davon singen. Denn im Auslachen von Leistungssportlern sind wir in Deutschland immer noch Spitze.

Dabei wird übersehen, dass das deutsche Team nicht so schlecht war, wie es der Medaillenspiegel suggeriert. Gemessen an den Top-8-Platzierungen war Deutschland sogar stärker als China und liegt in der offiziellen Placing Table mit 36 Punkten auf Platz Zwölf. Im Übrigen war das Team stark ersatzgeschwächt. Mit Malaika Mihambo, Konstanze Klosterhalfen, Gesa Krause, Lea Meyer, Lisa Mayer, Alexandra Burghardt und gleich drei Speerwerfern fehlten einige aussichtsreiche Medaillenkandidatinnen und -kandidaten.

Der Fehler liegt nicht bei den Sportlern, sondern im System

Speziell im Falle der Leichtathletik wäre höchst unfair und unfein auf Athletinnen und Athleten einzuschlagen, denen man mit Sicherheit nicht vorwerfen kann, zu wenig zu wollen oder zu wenig zu trainieren. Ob bei WM oder Deutschen Meisterschaften – wer dort antritt, hat einen harten Weg hinter sich gebracht.

Bei der Leichtathletik liegt der Fehler nicht beim aktiven Personal, sondern im System. Und zum Glück hat der Salto Nullo von Budapest schonungslos gezeigt, dass das deutsche System unbedingt reformiert werden muss – und zwar auf mehreren Ebenen. Aber das haben wir schon nach Berlin 2018 gesagt.

Obwohl, nein. Es muss nicht reformiert werden, es muss komplett neu gedacht werden. Kommerzieller, effizienter, offener und attraktiver.

Verletzt: Sprinterin Lisa Mayer war bei der WM in Budapest leider nur für das ZDF im Einsatz.

Sieben Punkte, wie die Leichtathletik in Deutschland besser wird

  1. Mehr Wahrnehmung. Keine Sportart verfügt über so viele attraktive und obendrein noch kluge Athletinnen und Athleten wie die Leichtathletik. Und aus irgendeinem Grund werden die überhaupt nicht vermarktet. Die Leichtathletik fliegt in jeder Beziehung unter dem Radar, egal, ob auf nationaler Ebene oder auf lokaler. Leichtathletinnen und -athleten müssen in die Schulen und im Sportunterricht für ihre Sportart werben. Sie müssen uns von Plakatwänden anlächeln und präsent sein. Der DLV sollte sich als Lobbyverband für seine Sportlerinnen und Sportler sehen und sie vernünftig vermarkten.
  2. Mehr Geld. Werden Leichtathleten stärker wahrgenommen, werden sie attraktiv als Werbeträger. Die Leichtathletik benötigt wie jeder Nicht-Fußball-Sport mehr Geld, hängt aber am Tropf des Bundesinnenministeriums. Dabei muss das Geld gar nicht zwangsläufig vom Staat kommen, sondern kann auch aus Sponsoren-Pools fließen – wenn man sie denn einrichtet und sich attraktiv dafür macht (siehe Punkt 1). Für einen Bruchteil des Geldes, das die Wirtschaft in den Amateurfußball (geschweige denn den Profi-Fußball) steckt, ließen sich professionelle Strukturen für andere Sportarten aufbauen.
  3. Mehr Profis. In Deutschland haben wir in der Leichtathletik zwar Vollzeitsportler, aber keine Profis, die sich um nichts als ihren Beruf kümmern müssen. Wir haben das, was wir früher verächtlich Staatsamateure genannt haben, wenn von den vom Militär alimentierten Ostblock-Sportlern die Rede war. Die wichtigsten Stützen im Nicht-Fußball sind die Bundeswehr, der Zoll und die Bundespolizei. Und auch die Trainer sind oftmals nur mit Teilzeit- oder befristeten Verträgen ausgestattet und haben neben der Betreuung ihrer Athleten noch zahlreiche weitere Baustellen, an denen sie arbeiten müssen. Wir leisten uns ein Sport-Prekariat, von dem wir Weltklasseleistungen erwarten. Nur mit Ehrenamtlichen kann man aber gegen hochprofessionalisierte Strukturen wie es sie in den USA gibt, nicht antreten.
  4. Mehr Zeit.  Ein großer Nachteil des Fördersystems im deutschen Nicht-Fußball ist, dass es nicht fördert, sondern fordert, belohnt und bestraft. Athletinnen und Athleten müssen sich für die Förderung qualifizieren. Auf dem Weg zur Qualifikation sind sie aber weitgehend auf sich gestellt. Das deutsche Fördersystem ist in etwa so logisch, als wolle man die Landwirtschaft fördern, indem man den Bauern statt Saatgut und Dünger nur das Benzin für den nicht vorhandenen Mähdrescher gibt. Und im nächsten Jahr geht es wieder von vorne los. Planungssicherheit geht anders. In einem Fördersystem, das den Namen verdient hat, würde ein Verband dafür sorgen, dass der Nachwuchs ein Umfeld bekommt, in dem er es schafft, sich stetig zu steigern, ohne aus Angst vor Förderverlust Verletzungsrisiken einzugehen. Die Förderung wäre in mehrjährigen Zyklen angelegt, wobei Rückschläge durch Verletzungen nicht automatisch zum Verlust führen würden.

    Olympiade als Planungszeitraum

    Eine Olympiade dauert vier Jahre, da wäre es doch naheliegend, Sportlerinnen und Sportler in diesem Zeitraum mit Sinn und Verstand zu aufzubauen. Von mir aus mit jährlichen Zwischenzielen, damit Ereignisse wie EM und WM nicht im olympischen Zyklus vergessen werden. Hendrik Pfeiffer hat im Interview hier erklärt, in welche Bedrängnis ihn die Erfüllung der Kadernorm bringt. Athleten werden zu einem Leben von der Hand in den Mund gezwungen, statt langfristig planen zu können. Die logische Konsequenz: Sie verlassen die Struktur des DLV und suchen sich andere Wege.

    Hendrik Pfeiffer führt eine Gruppe kenianischer Läufer an.
    Beim Trainingslager in Kenia dreht sich Hendrik Pfeiffer „durch den Wolf“ – er finanziert die Reise selbst.
  5. Mehr Wettkampf. Starke Trainingsgruppen bedeuten, dass jedes Training ein Wettkampf ist. Mehr Wettkampf bedeutet aber auch, dass Kinder ihre Trainingszeit nicht mit der minutenlangen Warterei in der Ballwurfschlange oder an der Weitsprunggrube verplempern. Ich habe oft genug beim Training der Kinderleichtathletik zugesehen. Wir brauchen Trainingsformen, in denen die Kinder sich bewegen. Hannes Wolf hat ähnliche Probleme im Kinderfußball ausgemacht. Seine Lösung: kleinere Gruppen, neue Spielformen, mehr Zeit mit dem Ball.
  6. Mehr „Team Deutschland“. Die deutsche Leichtathletik ist ein Flickenteppich aus Landesverbänden, Stützpunkten, Vereinen, Kleinst-Sponsoren und so weiter. Ich blicke da nicht durch. Ich weiß nur: Jeder macht etwas, es geht auch um Posten und Einfluss. Besser wäre es, die Kräfte zu bündeln. Die Niederlande versammeln ihren Spitzensport in Papendal, wo Leichtathleten mit Sportlerinnen und Sportlern aus anderen Disziplinen zusammenkommen und von einander profitieren. Die Athletinnen und Athleten bekommen ein Gehalt, von dem sie gut leben können und sie werden professionell betreut. Papendal ist quasi das Hauptquartier von Team Niederlande. Team Deutschland hingegen trainiert über die halbe Welt verstreut, und es spricht Bände, dass inzwischen einige starke Sportlerinnen und Sportler nicht in den Strukturen des DLV trainieren, sondern an Colleges in den USA oder internationalen Trainingsgruppen. Wenn ein Leistungszentrum in einem Land mit 80 Millionen Einwohnern zu wenig ist, dann halt vier: Nord, Süd, Ost, West. Das hätte sogar noch den Charme, dass diese Zentren miteinander in den Wettbewerb um die besten Ideen und Konzepte treten könnten.

    Wir alle sind Team Deutschland

    Zu Team Deutschland gehören aber auch wir. Eltern, die ihre Kinder ermutigen, in einen Verein zu gehen (und die das Training beaufsichtigen). Fußballer, die einsehen, dass sie zwar schnell die Seitenlinie entlang laufen können, mit dem Ball aber so ihre Probleme haben (und Leichtathletik-Trainer, die genau diese Spieler scouten). Sponsoren, die diesen Fußballern die Aussicht geben können, auch mit Leichtathletik ihr Studium finanzieren zu können statt mit Landesligafußball. Zu einem starken Team Deutschland gehört die Wirtschaft, die es ermöglicht, dass auch Azubis Leichtathletik machen können. Natürlich gehören die Sportartikelhersteller zum Team.  Die müssen doch ein Interesse daran haben, Zugpferde präsentieren zu können. Aber da keimt ja etwas. Puma, Adidas und On Running haben offenbar erkannt, dass mit den Strukturen des DLV kein Blumentopf zu gewinnen ist, und eigene Teams gegründet.

     

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    Mehr Team Deutschland bedeutet übrigens auch mehr Diversität. Die Leichtathletik wird von vielen Millieus überhaupt nicht wahrgenommen. Ich habe den Eindruck, in der Leichtathletik stammt jeder aus gut-bürgerlichem Haus, hat Abitur und strebt ein Studium an. Was ist mit dem Rest? Warum wimmelt es in den unteren Fußballligen zum Beispiel vor türkischen Kickern, die offenbar im Leben nicht auf die Idee kommen, in einen Leichtathletik-Verein zu gehen?

  7. Weniger Gejammer. Ich kann es nicht mehr hören, das Geheule über angeblich fehlende Leistungsbereitschaft und Siegermentalität als Grund für das Abschneiden der Deutschen bei den Weltmeisterschaften in Budapest und zuvor in Eugene. Was vergessen wird, ist die Vielzahl an persönlichen Bestleistungen und sogar Deutschen Rekorden. Die kommen nicht ohne Fleiß und Hingabe zustande. Dass sie im internationalen Vergleich nicht reichen, liegt zu großen Teilen am System, nicht am fehlenden Willen.

    Bundesjugendspiele sind ein Muster ohne Wert

    Aber es ist so bequem, sich über Eltern zu ärgern, die die Bundesjugendspiele abschaffen wollen, um Kinder vor negativen Erfahrungen zu schützen. Ja, mich nerven diese Leute auch. Mich nerven aber auch die Bundesjugendspiele, weil sie als Wettkampf ein Muster ohne Wert sind. Wer vor den Bundesjugendspielen nicht auf das Ereignis hintrainiert wird, kann auch keine Leistung erbringen. Die Spiele sind somit eine reine Talentabfrage, aber kein Wettkampf. Es gewinnen die, die sowieso gewinnen.
    Einen Sinn ergäben die Spiele nur dann, wenn der Sportunterricht ein angemessenes Training beinhalten würde. Weder bei mir noch bei meinen Kindern habe ich das erlebt. Oder man schafft Leistungsklassen, die dafür sorgen, dass die Besten sich mit den Besten messen.
    Aber ganz ehrlich: Diejenigen, die Bock auf Sport haben, interessiert dieses Gerede nicht. Und die paar durchgeknallten Weichei-Eltern können sich ohnehin nur Gehör verschaffen, weil einige von ihnen es in die Redaktion der taz geschafft haben, auf Twitter eine gefühlige Blase Gleichgesinnter vorfinden und weil AfD-nahe Personen sie gerne als Beispiel für unsere „verweichlichte“ Gesellschaft heranziehen. Lasst sie jammern, jammert aber bitte nicht mit.

2 Antworten auf „Salto Nullo in Budapest: Der Weg aus dem deutschen Leichtathletik-Desaster“

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