Das tolle Gefühl, ein Marathon-Läufer zu sein

42,195. Eine ziemlich krumme Zahl. Doch ausgerechnet die drei Ziffern hinter dem Komma machen aus einer profanen  Zahl den heiligen Gral des Laufsports, eines dieser Dinge, die auf Listen à la „25 Dinge, die man einmal im Leben gemacht haben sollte“ stehen: Marathon.

Was für Nichtläufer wahlweise bekloppt oder unmenschlich-unerreichbar scheint, wird für viele Läufer irgendwann zum ultimativen „Will-ich-haben“. Aber warum? Warum diese 42,195 Kilometer? Warum nicht die Hälfte, 30 km oder runde 50? Ein Erklärungsversuch.

Irgendwann bekommt diese spezielle Zahl eine Magie und unwiderstehliche Anziehungskraft. Einmal einen Marathon laufen! Und noch mal. Und wieder!

Das olympische Feuer in mir

Am Anfang war Olympia. Das erste Mal, als ich bewusst einen Marathon sah, hätte abschreckender nicht sein können. Es war der Zieleinlauf der Frauen bei den olympischen Spielen 1984 in Los Angeles.

Die Schweizerin Gabriele Andersen-Schiess (hier ein Interview – sie hat den Lauf gut überstanden) schleppte sich ins Ziel und kämpfte nach meinem Dafürhalten und dem vieler Zuschauer mit dem Tod. Das war also Marathon: Todeskampf. Erst der Film Free to Run zeigte mir Jahrzehnte später, wie bedeutsam dieser Lauf war.

Das Interesse für diesen Sport war jedenfalls geweckt, auch wenn ich es für ausgeschlossen hielt, jemals selbst einen Marathon zu laufen. Das konnten ganz offensichtlich nur Übermenschen – oder Lebensmüde.

Zeitsprung ins Jahr 2011

Es ist der 29. Mai. Ich stehe auf dem Rasen der MSV-Arena in Duisburg und staune über mich selbst. Gerade bin ich einen Halbmarathon gelaufen, in 2:10:05 Stunden. Es war locker, mir tut nichts weh. Ich kann laufen! Und irgendwie dämmert mir in diesem Moment, dass ich in exakt einem Jahr wohl wieder hier stehen oder liegen werde – als ganzer Marathoni, nicht als halber.

Im Training lerne ich neue Welten kennen. Mit jedem Kilometer jenseits der 21,095 km öffnet sich eine dieser Welten. Ich lerne. Disziplin, Schmerz, Überwindung, Geduld, Durchhalten. Ich lerne meine Stadt kennen, weil so ein Lauf über 30 oder 32 Kilometer zwangsläufig in Gegenden führt, in denen ich noch nicht war. Ich lerne, wie man auf einer Tartanbahn 25 Runden läuft, ohne dabei vor Langeweile umzukippen. Vor allem aber lerne ich mich neu kennen.

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Beim Marathon ist alles anders. Diese schier unendlich vielen Kilometer vor der Brust, die nicht weniger zu werden scheinen. Auch hier wimmelt es vor neuer Erfahrungen. Das Wissen, ab der Halbmarathon-Marke noch einen Halbmarathon laufen zu müssen, ist erdrückend.

Das Mysterium der zweiten Marathon-Hälfte

Die zweite Marathonhälfte ist ein Mysterium. Eigentlich ist die Sache ja klar: Ein Marathon besteht aus zwei Halbmarathons oder vier Zehnern plus ein bisschen.

Tatsächlich aber besteht allein der zweite Halbmarathon aus mindestens drei Zehnern. Der erste Zehner ist der von der HM-Marke bis km 31. Der Gedanke geht so: Mir geht’s super, ich laufe jetzt zehn km genau so locker weiter, dann noch neun und wenn da erst mal die 40 steht, laufen die Beine eh von selbst.

Die Realität sieht hingegen so aus: Nachdem man bei km 21,1 noch so guter Dinge war, fangen ab km 25, 26, 27 die Reserven rapide an zu schwinden. Das ist der Zeitpunkt, an dem die Kohlehydratspeicher erschöpft sind. Plötzlich wird klar, dass der Plan mit den zwei Zehnern nicht hinhaut.

Der Endspurt kann sich ziehen

Also: Den ersten Zehner löschen, einen neuen beginnen und darauf vertrauen, dass bei km 35, 36, 37 die Psyche noch keinen Abgang gemacht hat und den Körper brav am laufen hält. Blöd nur, dass bei km 32 direkt der nächste Zehner anfängt – der letzte, quasi der Endspurt. Ich sag’s mal vorsichtig: Der kann sich ganz schön ziehen.

Zieleinlauf beim Berlin- Marathon.

Das Gegenteil war bei mir nur einmal der Fall, als ich in Berlin auf der ersten Hälfte oft im Stau stand und auf der zweiten Hälfte noch so viel Power hatte, dass ich sie elf Minuten schneller laufen konnte als die erste – Endzeit: 4:11 Stunden.

Übrigens: Die erste Hälfte eines Marathons besteht auch aus viel weniger Zahlen als die zweite. Während der erste Halbmarathon aus den km 5, 10, 15 und 21,1 besteht, besteht der zweite aus 25, 30, 31, 32, 33, 34, 35… 40, 41, 42. Und da sind die halben Kilometer, die sich wie ganze anfühlen noch nicht drin.

Einmal Marathon, immer Marathon

Inzwischen bin ich neun Marathons gelaufen und kenne die Tücken und die Faszination dieser Strecke. Ich weiß, dass die ersten zehn Kilometer ein Klacks  sind und ein leichter erster Halbmarathon nur ein leeres Versprechen auf eine ebenso leichte zweite Hälfte. Ich kenne die Seele jenseits der 30-Kilometer-Marke und die Abgründe ab Kilometer 35, die Selbstgespräche, die Lügen, die Tricks, die leeren Beine.

Aber wenn ein Marathon doch so schlimm ist, warum soll man ihn dann laufen?

Kompromisse zwischen Job, Familie und Freunden

Weil der Marathon das Größte ist, was man erreichen kann, ohne sein Leben komplett auf den Kopf zu stellen. Wer Marathon laufen will, muss im Alltag jede Menge Kompromisse zwischen Job, Familie und Freunden schließen – aber für einen überschaubaren Zeitraum.

Ein Teil der Faszination am Marathon kommt daher, dass Menschen erfahren, wie der Geist mit Schmerzen umgehen kann. Im Bürojob kennt man das ja nicht. Die Fokussierung auf das Ziel steht beim Marathon und in der Vorbereitung über allem. Der Weg ist das Ziel? Nicht beim Marathon! Der Weg ist höchstens im Weg! Vermutlich würde es kein Marathon-Läufer merken, wenn jemand heimlich den Zielstrich immer weiter wegzöge. Oder wenn der Abstand zwischen den Kilometermarkierungen nicht 1000, sondern 1200 Meter betrüge. „Da vorne ist irgendwo das Ziel, da muss ich hin.“

Medaille gut, alles gut: im Ziel des Innogy-Marathons in Essen.

Beim Marathon bin ich eins mit meinem Körper. Ich weiß, welches Zwicken etwas Ernstes ist und welches kleine Wehwehchen sich nach wenigen Kilometern von alleine wieder rausläuft. In der Vorbereitung ist es sensationell, wie der Körper durch das Training bewegungshungriger wird. Und sobald die Ziellinie überschritten ist und die Medaille um meinen Hals baumelt, ist das alles weg und der Körper sagt nur noch: „Leck mich!“

Kennenlernen des eigenen Körpers

Ich habe jetzt, Stand Dezember 2017, neun Marathons erfolgreich gefinished. Meine schlechteste Zeit war eine 4:38 beim Debüt, dreimal bin ich seitdem unter der magischen Vier-Stunden-Marke geblieben. Und bei jedem dieser Läufe unter vier Stunden wusste ich bereits vorher, dass ich es schaffen würde. Eine Marathon-Vorbereitung ist eben auch ein intensives Kennenlernen des eigenen Körpers.

Aber was bedeuten diese Zeiten eigentlich. Nichts! Klar, mir sind sie persönlich wichtig. Aber ein Blick auf die vielen Glückwünsche in meiner Facebook-Timeline und noch mehr der Blick in die seligen Gesichter der vielen anderen Finisher zeigt mir, dass es eigentlich um etwas ganz Anderes geht.

Ich bin Marathoni, egal, ob ich 3:59:59 Stunden laufe oder 4:09:06. Ich bin Marathoni. Das bedeutet, dass ich über Monate auf ein Ziel hin gearbeitet habe. Dass ich körperliche und mentale Grenzen verschoben habe. Und genau das ist die eigentliche Leistung. Einen Marathon zu finishen ist das große Finale einer langen Vorbereitung. Und jeder, der es geschafft hat, hat allen Grund, stolz auf sich zu sein.

11 Antworten auf „Das tolle Gefühl, ein Marathon-Läufer zu sein“

  1. Hey, schön geschrieben! Ich vertrete ja immer noch die Theorie, dass eine gute Zeit in der zweiten Hälfte entsteht. Oder eben nicht 🙂 Vielleicht sogar auf den letzten 10km
    Tempo sparen am Anfang und dann gib ihm. In einer schnelleren ersten Hälfte holst du nie soviel raus, wie du am Schluss verlierst!
    Grüsse

    1. Mit negativem Split laufen, ist aber gar nicht so einfach. Die meisten machen halt den Fehler, die zweite Hälfte für genauso lang wie die erste zu halten. 😉

  2. Stefan, Du machst mir ja Mut für meinen ersten Marathon am 8. April 2018 in Rotterdam 😉

    Danke für den Einblick in das Seelenleben eines Marathonis und Glückwunsch zu neun erfolgreichen Marathons. Eine krass-gute Leistung!

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